Fünf Stunden Autofahren, eine schnurgerade Straße entlang, links und rechts Wüstenlandschaft, das macht müde. Hab’ viel geschlafen. Einmal fuhr Ajit zielbewusst in das kleine Dorf Khichan. Er wollte uns was zeigen. Wir stiegen aus. Kinder bestaunten uns, zeigten hinten auf einen Geröllhügel und hielten die Hand auf. Und dann sahen wir sie: Hunderte von Jungfernkranichen hatten an einem Teich ihr Winterquartier aufgeschlagen. Faszinierend anzuschauen, diese großen, grau-schwarzen Vögel, die wie Pinguine monogam leben und bei denen sich Männchen und Weibchen um die Aufzucht der Jungvögel kümmern.
Ein weiteres Mal hielt Ajit an. Er hatte ein winzig kleines Rehkitz auf der Straße liegen sehen, die Mutter war noch in Sichtweite. Das Kleine sprang ihr ein Stück hinterher, als Ajit sich näherte, dann musste es sich am Straßenrand wieder hinlegen. Ajit war total begeistert. Ich sah das Unausweichliche kommen, wollte ihm sagen, nein, nicht anfassen! Zu spät. Stolz nahm er das Rehbaby auf den Arm, streichelte es liebevoll und forderte Dieter auf, es ihm gleich zu tun. Wir sollten ein Foto von ihm mit Kitz machen und uns dazustellen, für seine Kinder. Ich stellte mich neben ihn. Ich habe ihm nicht gesagt, dass die Rehmutter nun wohl niemals mehr zu ihrem Kitz zurückkehren werde.
Ein alter Mann mit Turban erschien. Ajit lief mit dem Rehbaby im Arm auf ihn zu, erzählte irgendetwas auf Hindi, dann legte er das Rehlein ab. Er meinte, der Alte würde sich drum kümmern, falls die Mutter nicht zurückkäme. Außerdem seien Rehe nicht heilig und dürften sowohl von Hindus als auch von Muslimen gegessen werden. Indien zwingt einen umzudenken, anders zu denken, das Verhältnis zu Tieren zu überdenken. Besonders bei einer weiteren Kuriosität, die wir am Nachmittag besucht haben: den Karni Mata-Tempel in Deshnok, den Rattentempel. Diesmal begleitete Ajit uns stolz und mit feierlicher Miene. Wir mussten unsere Schuhe ausziehen, und dann hinein ins wohl außergewöhnlichste Heiligtum der Welt. Ajit verneigte sich tief bis zum Boden wie alle Hindus, und kaum waren wir durch das marmorne Eingangstor, da kreuchten und fleuchten die putzigen Tierchen um uns herum. Überall lag Futter auf dem Boden und Rattenkot, es stank für europäische Nasen, ich musste um Fassung ringen, um das Unglaubliche, was ich hier sah, zu ertragen. Ajit meinte tief bewegt, dass wenn mir eine der wenigen weißen Ratten über den Fuß laufen sollte, würde mir das ganz viel Glück bringen. Ich hatte genug damit zu tun, mich darauf zu konzentrieren, dass ich nicht aus Versehen auf eine der vielen grauen Ratten trat, die um uns herumwuselten. Dafür müsste ich nämlich auch noch Strafe zahlen, indem ich dem Tempel eine goldene Ratte zu spendieren hätte, um die Götter zu besänftigen. Oh mein Gott, würde ich mich beherrschen können, und nicht aufschreien, wenn mir so ‘ne widerliche Ratte über den Fuß läuft? Ich glaube nicht! Eine ginge ja noch, aber hier diese vielen? Ich versuchte, mich zu beherrschen und mir die indische Sichtweise wenigstens vorzustellen. Gläubige Hindus sehen in diesen Ratten wiedergeborene Seelen, kabas, die nur als solche vor dem Zorn des Totengottes Yama geschützt würden. Dieter fotografierte in der Hocke. Da kroch so eine kaba unter seinen Po. “Vorsicht! Ratte von hinten!” Dieter lachte. Er fand die Ratten nicht eklig und konnte gar nicht aufhören, das bizarre Szenario mit der Kamera festzuhalten. “Die sind aber süß,die machen doch nichts und zum Fressen haben sie ja auch im Überfluss”. Ich hatte genug, wollte nur noch raus. Ajit ging natürlich zu dem Schrein der Karniji, wo nur Inder zugelassen waren, und brachte den heiligen Viechern was zu essen. Auch viele Kinder hatten ihren Spaß in diesem Tempel mit den possierlichen Tierchen – Indien war mal wieder incredible.
Danach besuchten wir Asiens größte Kamelaufzuchtsfarm. Über hundert Dromedare kamen gerade von den Feldern galoppiert. Es gab ein Gehege für die trächtigen Tiere, und daneben eines, in dem wir beobachten konnten, wie die Dromedarkälber an den Zitzen ihrer Mütter saugten und die Muttertiere gleichzeitig von Kamelwärtern gemolken wurden.
Abends ließen wir uns noch von einem Motor-Rikschafahrer zum Essen kutschieren und durch die Altstadt des lebhaft geschäftigen Bikaner fahren. Enge Gassen, auch mal ein Bahnübergang, Basare, Menschen in Bewegung, mörderischer Verkehr, Kühe, Dromedare, Ziegen, Hunde, Schweine – alles war wieder dabei. Ein animalischer, unglaublich indischer Tag ging zu Ende.